Ich spüre ein Dröhnen in meinem Kopf. Als würden Hummeln wild in meinem Oberstübchen umherfliegen. Ich muss mich hinlegen. Ich setze mich auf mein Bett in meinem Kinderzimmer. Die Jalousien habe ich zugezogen, damit es schön dunkel ist. Ein letzter Blick auf mein Smartphone. Das Display erhellt den ganzen Raum erst wieder. Ich will nur kurz checken, was ich auf dem Heimweg vom Ring zu mir nach Hause verpasst habe.
Ich bin extrem müde und meine Migräne meldet sich auch schon. Den ganzen Tag Hitze und Sonne, das hat mir nicht gutgetan. Außerdem habe ich wieder einmal viel zu wenig gegessen. Die Kopfschmerzen werden schlimmer, ich klicke dennoch auf das Symbol mit dem blauen Vogel. Nur kurz, denke ich.
Plötzlich bin ich wieder hellwach, die Schmerzen sind wie weggeblasen. Was lese ich da? Tweets flattern in meine Timeline, von weiblichen Formel-1-Fans. Retweet um Retweet traue ich meinen Augen kaum. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich, ich kann es schwer deuten.
Da schreiben Formel-1-Fans von sexuellen Übergriffen und Belästigungen, rassistischen Beschimpfungen und homophoben Äußerungen.
Ich merke, wie ich den Tag vor meinem inneren Auge reflektiere. Darüber nachdenke, was ich erlebt habe. Und das neu einordne. Auf Twitter schreibe ich von meinen Eindrücken. Ich bekomme unglaublichen Zuspruch, der mir recht gibt. Denn zunächst dachte ich, wäre das ein wunderbarer Tag an der Rennstrecke gewesen – in guter Gesellschaft mit Beate und Caro vom Formel-1-Podcast femula 1.
Doch kurz nachdem sich unsere Wege in der Fanzone nach dem Sprint am Samstag trennten, schlug meine Stimmung plötzlich von einer Sekunde auf die andere um. Ich musste mich durch Menschenmassen drängen, um zum Ausgang zu gelangen. Plötzlich wollte ich nur noch weg.
Dieses unangenehme Gefühl ignorierte ich in der Nachbetrachtung zunächst. Doch die zahlreichen Schilderungen von anderen Fans zeigten mir auf, dass sich mein Bauchgefühl nicht getäuscht hatte.
In der alkoholschwangeren Atmosphäre hatten sich einige niederländische Fans nicht mehr unter Kontrolle. Einer rempelte mich an, der andere wollte mir die Maske vom Gesicht reißen. Die Stimmung war aufgeheizt. Ich drückte mich an halbnackten Körpern vorbei bis zum Ausgang.
Danach bekam ich von Caro eine Nachricht: Am Campingplatz wurden die beiden vor laufendem Mikrofon angemacht. „Wollten am Abend noch eine Umfrage am Campingplatz machen, aber die waren so ungut. Echt mühsam.“ Die sexuellen Anspielungen (auf Niederländisch) konnte man danach in der Spielberg-Ausgabe des Podcasts auch hören. Leider musste die Folge aus rechtlichen Gründen offline genommen werden.
Ursprünglich wollte ich bereits nach besagtem Samstag in Spielberg etwas darüber schreiben, aber ich hatte nicht den nötigen Abstand. Ich wurde für mehrere Interviews angefragt, die ich ebenso abgesagt habe. Einerseits fühlte ich mich nicht befähigt, darüber zu sprechen, da mir ja eigentlich nichts passiert war. Andererseits hatte ich auch ehrlich keine Kraft dazu.
Mit dem Sportjournalisten Fritz Neumann von der österreichischen Tageszeitung Der Standard habe ich ein paar Tage nach dem Rennwochenende dann doch über Lösungsansätze gesprochen. Viele, vor allem weiblich gelesene Personen, hatten diese bereits am Rennsonntag parat. Auf Social Media wurden zahlreiche Verbesserungsvorschläge für die Veranstalter verbreitet:
Was jeder Fan selbst tun kann, sollte er/sie Zeuge:in werden:
Was davon ist beim Projekt Spielberg angekommen? Ein Jahr nach den Negativschlagzeilen wird die Formel 1 am bevorstehenden Wochenende wieder im Murtal gastieren. Und wieder ist ein Zuschauerrekord nicht ausgeschlossen. Dafür müsste die Marke von 303.000 Fans am gesamten Rennwochenende aus dem Vorjahr überboten werden.
Ein solcher Ansturm von vor allem niederländischen Fans wird erwartet. Das Sicherheitsrisiko wird demnach kaum geringer ausfallen als 2022. Welche Konsequenzen zieht der Red Bull Ring daher aus dem Vorjahr? Ring-Manager Erich Wolf versicherte bereits kurz nach den Vorkommnissen, dass man nichts unter den Teppich kehren werde.
Auf Nachfrage beim Projekt Spielberg erfahre ich: „Der Red Bull Ring hat die Vorkommnisse aus dem vergangenen Jahr sehr ernst genommen.“
Das bedeutet einerseits, dass es tatsächlich unangebrachtes Verhalten von einzelnen Fans gegeben hat – manch einer hatte daran nach dem Wochenende trotz zahlreicher Schilderungen von Betroffenen immer noch seine Zweifel.
Andererseits hat der Red Bull Ring diese Vorkommnisse nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern ist den Schilderungen auch „konkret nachgegangen“. Wie dies im Detail passiert ist, lässt die Beantwortung meiner Anfrage offen. Aber die Pressestelle bestätigt, dass „mit betroffenen Personen persönliche Gespräche geführt wurden“.
Welche Learnings konnte man aus den Gesprächen ziehen und für den Österreich Grand Prix 2023 im Sicherheitskonzept implementieren? So konkret wird diese Frage vom Veranstalter nicht beantwortet. Allerdings wird versichert, dass in Abstimmung mit den Einsatzorganisationen besonderes Augenmerk auf das Motto „Gemeinsam sicher am Ring“ gelegt werde.
Unter diesem Motto hat der Red Bull Ring sicherheitsrelevante Informationen auf der Website und auf Social Media zusammengefasst. Notrufnummern der Polizei und des Euro-Notruf werden auf Deutsch und Englisch kommuniziert.
Welche Maßnahmen direkt am Gelände vorgenommen werden, das werde ich mir am Samstag vor Ort ansehen. Zum Sprint werde ich im Stehplatz-Bereich auf dem Schönberg beobachten, wie sich die Lage in diesem Jahr entwickelt.
Und trotz der Vorkommnisse des Vorjahres, die mich persönlich noch lange danach beschäftigt haben, muss ich gestehen: Die Vorfreude auf das Rennwochenende in meiner Heimat ist riesengroß. Denn ich lasse mir die Formel 1 nicht von ein paar „Depperten“ (Zitat Toto Wolff) madigmachen. Das haben sie nicht geschafft.
Außerdem bestärkt mich die weibliche Fan-Community. Die Plattform Females in Motorsport hat eine Whatsapp-Gruppe für alle weiblichen Fans vor Ort in Spielberg eingerichtet. Darin connecten sich die Fans untereinander und unterstützen sich bei Fragen rund um das Rennwochenende und die persönliche Sicherheit.
Es ist dieser Spirit, die Unterstützung und die positive Resonanz, die mich hoffen lässt, dass 2023 einfach ein großartiges Rennwochenende wird. Ganz ohne unangenehme Situationen.
Du bist am Wochenende auch beim Formel-1-Rennen vor Ort am Red Bull Ring? Dann melde dich gerne bei mir via Privatnachricht auf Facebook, Twitter & Instagram!
Solltest du Opfer von sexuellen, rassistischen oder homophoben Belästigungen oder Übergriffen geworden sein, dann melde dich umgehend bei der österreichischen Polizei unter „133“ oder beim Euro Notruf „112“.