Eigentlich wollte ich diesen Kommentar bereits 2020 schreiben und veröffentlichen. Denn am 5. November 2020 wurde bekannt, dass die Formel 1 zukünftig in Saudi-Arabien gastieren werde. Ich durfte damals die Meldung auf Motorsport-Total.com verfassen. Nach dem diesjährigen Rennen und den Geschehnissen rund um die Rennstrecke in Dschidda wage ich einen neuen Anlauf, bevor der Tross die Sache wieder vergisst und zum „Business as usual“ in Australien an diesem Wochenende zurückkehrt.
„Das ist eine Schande!“ So lauteten die ersten Reaktionen in sozialen Netzwerken, als der Grand Prix offiziell bestätigt wurde. Mein Bauchgefühl stimmte dieser Aussage zu. Denn auch aus meiner Wahrnehmung heraus überschritt Liberty Media mit dieser Bekanntgabe eine rote Linie.
Um dieses Bauchgefühl mit etwas Handfestem zu untermauern, müssen wir uns ansehen, mit welchem Land wir es zu tun haben. Saudi-Arabien ist eine islamische absolute Monarchie, wurde 1932 von König Abdul-Aziz bin Abdulrahman Al Saud gegründet und beherbergt mittlerweile rund 35 Millionen Menschen – 70 Prozent davon sind unter 30 Jahre alt.
Das ist ein Grund, weshalb die Formel 1 seit 2021 dort einen Grand Prix abhält. Liberty Media erhofft sich davon, im Nahen Osten noch mehr neue Fans zu generieren. Ein zweiter wichtiger Faktor: Das Land ist einer der größten Erdölproduzenten und weltgrößte -exporteur. Das legt den Grundstein für die Wirtschaft des Landes.
Aufgrund der fraglichen Zukunft von fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas versucht die saudische Regierung die Einnahmen des Staates zu diversifizieren. Die Formel 1 kam ihnen dabei gerade recht, der Sport dient als Marketingtool und Tor zur westlichen Welt. Die Königsklasse ist Teil der „Vision 2030“, die Anfang 2016 unter der neuen Führung rund um Kronprinz Mohammed bin Salman ausgearbeitet wurde.
Das Land setzt zunehmend auf ausländische Investitionen und öffnet sich für den Tourismus. Allerdings handelt es sich im Kern weiterhin um einen nicht-säkularen, monarchischen Staat, „dessen Recht, Gesellschaft und Politik auf Stammestraditionen, Religion und der Scharia in wahhabitischer Auslegung basieren.“
Das bedeutet: Ein freier gesellschaftlicher Diskurs ist nicht möglich, Medien stehen unter staatlicher Kontrolle und kritische Stimmen müssen mit Sanktionen rechnen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International stellt dem Wüstenstaat ein verheerendes Zeugnis aus.
Die Menschenrechtslage wird gar als „katastrophal“ bezeichnet, und dafür zehn gute Gründe (2019) aufgezählt:
Okay, jetzt mal kurz durchatmen, denn es wird nicht besser.
Im Amnesty Report 2021/22 widmet die Menschenrechtsorganisation Saudi-Arabien ein eigenes Kapitel. Allein die Zusammenfassung davon ist starker Tobak: „Die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden auch 2021 massiv beschnitten. Das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten verhängte hohe Freiheitsstrafen gegen Personen, die sich für die Menschenrechte eingesetzt und abweichende Meinungen geäußert hatten. […] Gerichte verhängten häufig Todesurteile, und Menschen wurden wegen einer Vielzahl von Straftaten hingerichtet.“
Stopp. Was hat das alles verdammt noch einmal mit der Formel 1 zu tun? Gute Frage.
Jetzt könnte ich natürlich schreiben: Sport und Politik gehören getrennt. Das eine hat mit dem anderen doch überhaupt nichts zu tun. Gut, dann endet dieser Kommentar an dieser Stelle.
Aber so einfach ist es eben nicht. Denn: Sport und Politik, ja, das hat sehr wohl etwas miteinander zu tun. „Das IOC, die großen Sportverbände im Fußball, Eishockey oder in der Formel 1 ordnen weiterhin die Menschenrechte, das Wohl der Athlet_innen und Transparenz dem Kommerz unter und dienen sich Regierungen an.“ Stichwort: Sportswashing.
Das schreibe nicht ich, sondern Markus N. Beeko. Er ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion. In einem Kommentar kritisiert er Sportverbände für ihre Ignoranz. Und er fordert: „Bevor internationale Sportereignisse vergeben werden, müssen menschenrechtliche Mindeststandards zur Voraussetzung gemacht werden.“
Was wie selbstverständlich klingt, ist in vielen Ländern nämlich ganz und gar nicht selbstverständlich. Beeko fordert daher kritische Sportler, wie Lewis Hamilton, und Fans auf, weiter „lästige Fragen an Verbände, Sponsoren und Politik zu stellen.“
Genau das möchte auch ich mit diesem Kommentar erreichen – kritisch zu hinterfragen, warum die Formel 1 unbedingt in Saudi-Arabien fahren muss.
Laut Medienberichten bezahlt Saudi-Arabien der Formel 1 90 Millionen Dollar Antrittsgeld – pro Jahr. Damit sind die Saudis die lukrativsten Kunden von Liberty Media. Zu Geld sagt man bekanntlich nie nein. Aber können es sich Stefano Domenicali und Co. wirklich so einfach machen?
Antwort: Ja, können sie. Das zeigen die jüngsten Vorkommnisse am vergangenen Rennwochenende. Ganz nach dem Motto „The Show Must Go On“ wurde der Grand Prix nur zwei Tage nach einem Angriff auf eine Anlage der staatlichen Ölfirma Aramco von jemenitischen Huthi-Rebellen gefahren – trotz Skepsis der Fahrer.
Im Rückblick hat diese Aussage von Domenicali in einem Sky-Interview im Oktober 2021 einen besonders bitteren Nachgeschmack. Auf die Frage, was er Menschen ausrichtet, die sich bei dem Gedanken an Rennen in Saudi-Arabien oder Katar unwohl fühlen, entgegnete der Italiener:
„Wir sprechen über Sport, über eine Plattform, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Spaß zu kreieren und Menschen zu vereinen. Und ich denke, das ist immer der Fall. Der Sport wird dabei helfen, in jedem Land, in das wir reisen, die richtigen Werte und Positivität zu verbessern. Denn das Scheinwerferlicht, das die Formel 1 [erzeugt], ist so groß, dass man nichts verstecken kann. […] Die Formel 1 wird den Übergang hin zu einer besseren Welt beschleunigen.“
Tatsächlich strahlte das Scheinwerferlicht auch am Trainingsfreitag in Dschidda – allerdings auf die brennende Ölanlage von Aramco. Dadurch wurde einmal mehr die Debatte rund um den Austragungsort des Grand Prix entflammt.
Dazu muss man die Hintergründe des Anschlags genauer beleuchten: Seit 2015 herrscht im Jemen Krieg. Genauer gesagt handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen einer Koalition von Golfstaaten, angeführt von Saudi-Arabien, und dem Iran.
„Alle am Konflikt im Jemen beteiligten Parteien verstießen 2021 weiterhin ungestraft gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen. Sowohl die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz, die die international anerkannte Regierung des Jemen unterstützt, als auch die bewaffnete Gruppe der Huthi verübten weiterhin Angriffe, bei denen Zivilpersonen verletzt und getötet wurden.“ Das urteilt Amnesty International.
Immerhin kündigte Saudi-Arabien nun eine Waffenruhe während des Fastenmonats Ramadan an. Allerdings bleiben viele Fragen dennoch offen. Denn nicht nur der Krieg im Jemen, der nun plötzlich auf eindrückliche Weise im Wohnzimmer des westlichen Formel-1-Fans angekommen ist, bereiten Zuschauern und Beobachtern Sorgen – wir erinnern uns an die zehn Punkte von vorhin, bleiben also noch neun.
Etwa das Thema Hinrichtungen. Was in einem europäischen Staat heutzutage völlig undenkbar wäre, steht in Saudi-Arabien praktisch auf der Tagesordnung. Am 12. März meldeten Staatsmedien 81 Hinrichtungen an einem einzigen Tag. Damit stieg die Anzahl auf insgesamt 92 nur im Jahr 2022.
Oder aber der Mord an Jamal Kashoggi. Der saudi-arabische Journalist, der für die Washington Post schrieb, und dem Herrscherhaus kritisch gesinnt war, wurde 2018 in Istanbul, Türkei, im saudischen Konsulat gezielt getötet.
Laut offiziellen Angaben wurde der Mord im Vorfeld geplant. Ein Mordkommando wartete auf Kashoggi im Regierungsgebäude, dort wollte er Papiere für seine anstehende Heirat abholen. Er wurde getötet und zerstückelt. Seine Überreste ließen die Möder verschwinden.
Zunächst wurde die Tat vertuscht, doch als der Druck auf Saudi-Arabien zu groß wurde, gab das Königshaus schließlich zu, dass Kashoggi bei „einem missglückten Einsatz zu seiner Festnahme“ ums Leben kam. Mittlerweile haben US-Geheimdienste Kronprinzen Mohammed bin Salman direkt für den Mord verantwortlich gemacht.
Nur um das klarzustellen: Mit diesen Leuten macht die Formel 1 Geschäfte. Realitätsfern hält Domenicali all diesen Anschuldigungen entgegen: Man müsse „zwischen der Emotion und dem Rationalen unterscheiden„. Das hat er tatsächlich so vor wenigen Tagen in einem Sky-Interview gesagt.
Und: „Wir sind ja nicht blind, aber man darf nicht vergessen: Dieses Land hat auch durch die Formel 1 und den Sport einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht. Und man kann nicht davon ausgehen, eine eintausend Jahre alte Kultur im Handumdrehen ändern zu können.“
Die Wahrheit ist nur leider eine andere: Der Sport macht sich in diesem Fall zum Spielball der Politik, indem er sich neutral verhält. Politiker – besser gesagt Monarchen – tun das nicht. Sie verwenden den Sport als Stilmittel und zur Ablenkung von den wahren Problemen.
Wie kommt die Königsklasse nun also aus diesem ganzen Schlamassel wieder heraus?
Mark Hughes hat bereits im November 2020 in seiner Kolumne für The Race einen Vorschlag geliefert: Damit die Formel 1 zu keinem „Moralbarometer“ verkommt, sollte die FIA in ihren Statuten festschreiben, dass Motorsport-Veranstaltungen nur in Ländern abgehalten werden können, die gewisse Kriterien erfüllen.
Zum Beispiel könnte man den Human Rights Index der Vereinten Nationen als faktische Grundlage heranziehen, schlägt Hughes vor. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass die Formel 1 gar keine Verträge mit Ländern eingehen könnte, die sich nicht an gewisse Standards halten und in internationalen Rankings unter oder über einer gewissen Grenze (Scores) liegen.
Regime würden also gezwungen werden, ihre Rechtslage und dessen menschenwürdige Umsetzung zu verbessern, wenn sie Interesse daran haben, ein Rennen auszutragen. In so einem Fall hätte das wohl auch einen Effekt auf andere Sportarten, und würde Druck auf Verbände, wie die FIFA, erhöhen.
Es gibt eine ganze Reihe von Reports und Rankings, die festlegen, wie demokratisch und frei Länder sind. Unter anderem gibt es den Human Freedom Index (HFI), der in Kooperation des Cato Instituts und des Fraser Instituts herausgegeben wird.
Darin werden 82 Kriterien aus verschiedenen Kategorien (etwa Sicherheit, Religion, oder auch Justiz) untersucht und in einem Score von 1 bis 10 abgebildet. Von 165 untersuchten Ländern lag der HFI bei durchschnittlich 7,12 (Daten aus 2019).
Ich habe mir angesehen, wie die Austragungsorte der Formel 1 im Jahr 2022 laut dem HFI abschneiden. Wenig überraschend gibt es Länder, die unter dem Durchschnitt liegen – sechs um genau zu sein: Mexiko (6,92), Russland (6,23), Aserbaidschan (6,16), Abu Dhabi (6,06), Bahrain (5,73) und Saudi-Arabien (5,12).
Mit Brasilien (7,22), Ungarn (7,73) und Singapur (7,98) gibt es außerdem drei Austragungsorte, die nur knapp über dem Durchschnitt des HFI angesiedelt sind.
Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich, wenn man sich den Freedom of the World Report der NGO Freedom House ansieht. Auch hier stechen die üblichen Verdächtigen heraus: Ungarn, Mexiko, Singapur, Russland, Abu Dhabi (VAE), Bahrain, Aserbaidschan und Saudi-Arabien.
Das ist nun wahrlich keine Überraschung, zugegeben. Es zeigt sich aber ein klarer Trend. Dazu noch ein letzter Report, der uns dabei hilft, die Welt ein bisschen besser zu verstehen: der Democracy Index, herausgegeben vom Economist.
Dieser Index basiert auf 60 Indikatoren, die in fünf Kategorien unterteilt sind: Wahlverfahren und Pluralismus, bürgerliche Freiheiten, Funktionsweise der Regierung, politische Partizipation und politische Kultur. Länder erhalten anhand dieser Kriterien einen Score von 0 bis 10.
Anhand dieses Scores werden die Länder in vier Kategorien einsortiert: von „vollständige Demokratien“ (10-8), „mangelhafte Demokratien“ (8-6), über „hybride Regime“ (6-4) bis hin zu „autoritäre Regime“ (4-0).
Ich habe mir die Mühe gemacht und den Durchschnittswert aller Austragungsländer der Formel 1 seit der Saison 2006 (seither erscheint der Bericht) ausgerechnet. Mit zwei Ausnahmen, denn 2007 und 2009 gab es keinen jährlichen Bericht.
Der Durchschnittswert ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken, da immer mehr Länder mit niedrigem Ranking in die Rechnung einflossen. Aktuell liegt die Formel 1 bei einem Durchschnittswert von 5,8 – was bereits einem „hybriden Regime“ gleichkommen würde.
Zwar zeigt der Index sehr schön, dass in den vergangenen Jahren demokratische Strömungen generell abgenommen haben – nur noch rund sechs Prozent der Weltbevölkerung lebt in freien Demokratien. Der Trend der Formel 1 hat allerdings auch etwas mit den Entscheidungen der Rechteinhaber zu tun, wo gefahren wird.
Es ist demnach nicht egal, wo die Formel 1 gastiert. Denn indirekt machen sich Liberty Media und Co. zu Verbündeten von Autokraten und Machtfanatikern. Die Formel 1 sollte von ihrem Expansionsdrang und ihrer Geldgier Abstand nehmen und sich zunächst auf Menschenrechte und demokratische Werte rückbesinnen.
Diese Tugend hat man in den vergangenen Jahren nämlich verlernt. Die Königsklasse darf nicht auf jene Werte vergessen, in denen sie selbst verwurzelt ist. Auf der Website der Formel 1 ist etwa ein klares Bekenntnis zu Menschenrechten zu lesen.
Das vergisst man allerdings ganz schnell wieder, wenn ein paar Scheichs mit ihren Öl-Millionen winken. Denn warum sonst sollte die Formel 1 ein Interesse daran haben, in Saudi-Arabien zu fahren?
„Würde die Formel 1, um in Saudi-Arabien Gutes zu bewirken, auch für ’normale‘ Beträge, wie sie andere Promoter bezahlen, kommen?„, fragt sich auch Christian Nimmervoll in seinem Kommentar auf Motorsport-Total.com.
Und wir alle kennen die Antwort: Natürlich nicht.
Denn Liberty Media macht mit autokratisch herrschenden Monarchen kein Geschäft, nur damit in deren Land westliche Werte Einzug halten, so wie es Domenicali argumentiert. Er macht mit den Scheichs Geschäfte, weil beide etwas davon haben – die Formel 1 wird sehr gut bezahlt dafür, dass die Herrscher sich in deren Rampenlicht sonnen können.
„Geiz ist Geil, koste es, was es wolle. Zur Not auch, wenn Blut an den Händen der Geschäftspartner klebt.“ Genau so läuft das. Auch Nimmervoll plädiert für einen Wertekodex. Ob angelehnt an diverse NGO-Vorschläge und -Rankings oder nicht, könnten dort grundlegende Bekenntnisse zu Frieden und Menschenrechte verankert werden.
Einen solchen Wertekodex könnte sich Liberty Media von einer unabhängigen Kommission voller ausgewiesener Experten ausarbeiten lassen. Und dann aus der Schublade ziehen, wenn der nächste Autokrat bei der Türe hereinwinkt.
Die Botschaft wäre eindeutig: Wer unseren Ansprüchen nicht genügen kann, der wird auch nicht Ausrichter eines Grand Prix. Und Liberty Media müsste sich nicht einmal in Ausreden flüchten, sondern könnte ganz professionell auf den Wertekodex und daran geknüpfte Bedingungen verweisen, die am besten natürlich noch transparent online für alle einsehbar sind.
Eigentlich doch alles ganz einfach.
Falls sich übrigens jemand fragt, ob die Formel 1 auch im kommenden Jahr wieder nach Saudi-Arabien fahren wird, will ich diese Information natürlich niemandem vorenthalten: „Formel-1-Chef Stefano Domenicali stellt den Austragungsort auch für die Zukunft nicht in Frage.“
Vielleicht sollte er wenigstens einmal darüber nachdenken …