Formel-1-Rennkalender: Wie viel ist zu viel?

Nizza, Madrid und bald schon Sinabelkirchen und Stinatz?

 

Der Formel-1-Rennkalender füllt sich munter immer weiter. Er bläht sich geradezu auf, wie eine Kaugummiblase. Die Frage ist: Wann platzt sie?

 

Liberty Media hat sich die Möglichkeit vertraglich zusichern lassen, bis zu 24
Rennen pro Saison auszutragen. Aktuell werden 22 Wochenenden im Jahr gefahren.

 

Der Trend zeigt schon seit Jahren stark nach oben.

Wie hat sich der Kalender in den vergangenen Jahren verändert?

Seit die US-Amerikaner als Rechteinhaber von Bernie Ecclestone übernommen haben, gibt es anscheinend kein Halten mehr. Ist vor genau zehn Jahren erstmal die magische Grenze von 20 Rennen angetastet worden, so wurde dies schnell zum neuen Standard.

 

Seit 2012 sind folgende Strecken neu beziehungsweise wieder in den Kalender aufgenommen worden: Austin (2012), Spielberg (2014), Sotschi (2014), Mexiko-City (2015), Baku (2016), Le Castellet (2018), Imola (2020), Mugello (2020), Portimao (2020), Nürburgring (2020), Istanbul (2020), Zandvoort (2021), Losail (2021), Dschidda (2021) und Miami (2022).

 

Bedingt durch die Pandemie musste Liberty Media schnell reagieren und Alternativen zu Übersee-Rennen finden, daher sind manche dieser Strecke nur kurzfristig zu einem Comeback gekommen. Die meisten durften allerdings bleiben.

 

Und schon im kommenden Jahr geht die Expansion weiter: die Rückkehr nach Las Vegas ist bereits fixiert, womit sich die Anzahl der US-Rennen auf drei insgesamt erhöht. Außerdem wird lautstark über ein Comeback in Afrika (Kyalami, Südafrika) spekuliert.

Welche Traditionsrennstrecken bleiben 2023 im Kalender?

Während sich einige Länder langfristige Verträge gesichert haben – Australien hat erst kürzlich bis 2035 verlängert – müssen Traditionsrennstrecken zittern. Aktuell stehen Belgien, Mexiko, Österreich, Monaco und Frankreich ohne Vertrag für kommendes Jahr da.

 

Man darf davon ausgehen, dass das Rennen in Mexiko-City auch weiterhin im Kalender bleiben wird. Es zählt dank Lokalheld Sergio Perez zu einem der bestbesuchten im gesamten Jahr. Und da der Red-Bull-Pilot seinen Vertrag gerade erst bis 2024 verlängert hat, wird das auch noch eine ganze Weile so bleiben.

 

Auch der Grand Prix von Österreich dürfte nicht in Gefahr sein. Bereits 2020 hat Red-Bull-Motorsportkonsulent Helmut Marko davon gesprochen, dass der Ring in Spielberg über einen „mehrjährigen Vertrag“ verfüge.

 

Außerdem weiß Liberty Media die professionelle Planung von Red Bull zu schätzen. Man konnte sich in der Pandemie auf den Austragungsort – sogar als Auftaktevent – verlassen, auch im Vorjahr fanden dort zwei Rennen statt. Und 2022 wird ein neuer Besucherrekord erwartet, gute Vorzeichen also.

Welche Länder müssen um einen neuen Vertrag zittern?

Weniger rosig bestellt ist es um Belgien. Die Rennstrecke in Spa-Francorchamps zählt unter Fahrern und Fans zu den Lieblingskursen, doch das Regenfiasko im Vorjahr bescherte der Formel 1 einen Imageschaden.

 

Manche Medien titelten bereits: „Traditionsstrecke in Belgien droht das Aus“. Und tatsächlich könnte es eng werden, obwohl die Strecke aktuell um viele Millionen Euro umgebaut und erneuert wird, und auch das Eventkonzept an die US-amerikanischen Vorstellungen angepasst wird.

 

Ob das reicht, ist fraglich – schließlich geht es am Ende des Tages auch immer um das liebe Geld.

 

Ein großes Fragezeichen steht auch hinter dem Grand Prix von Frankreich. Die Rennstrecke in Le Castellet gilt als Langeweiler im Kalender, wenig attraktiv und herausfordernd für die Fahrer. Daher könnte auch Paul Ricard ausscheiden.

 

Und dann wäre da noch Monaco. Könnte das Rennen 2022 tatsächlich das letzte auf dem Glitzer-und-Glamour-Kurs gewesen sein? Tatsächlich scheint es nach wie vor zu keiner Einigung gekommen zu sein. Monaco möchte auf Privilegien nicht verzichten, gleichzeitig darf der sportliche Wert der Veranstaltung infrage gestellt werden.

Wie viele Rennen werden in Zukunft noch in Europa gefahren?

Aktuell haben 20 Rennstrecke einen Vertrag für die Austragung eines Grand Prix im kommenden Jahr. Zählt man Österreich und Mexiko dazu, und rechnet mit dem Comeback in Südafrika – dann wäre nur noch ein Platz frei.

 

Langfristig träumt Stefano Domenicali, Vorsitzender von Liberty Media, von insgesamt 30 Saisonrennen. Zumindest sei das Interesse von potenziellen Austragungsorten stark gestiegen, dank der zuletzt sportlich attraktiveren Rennen.

 

Außerdem schwirrt seit Wochen die Zahl 16 durch den Raum: 16 Rennen sollen in Zukunft außerhalb Europas stattfinden, bleiben 8 für den Heimatkontinent des Sports übrig. Aktuell haben sechs Strecken in Europa einen gültigen Vertrag für die Zukunft.

 

„Es liegt an uns, die richtige Balance zwischen historischen Werten der alten und berühmten Rennstrecken in Europa und neuen Orten in aller Welt zu finden“, erklärte der Italiener kürzlich.

 

Nachsatz: „Manche der aktuellen Grands Prix werden wahrscheinlich nicht mehr länger im Kalender stehen.“

 

Allerdings versucht Liberty Media gleichzeitig auch zu beruhigen, um die langjährigen, europäischen Fans nicht zu verärgern: „Wir werden die Kernländer in Europa behalten.“

Gibt es bald nur noch Triple-Header?

Immer mehr Rennen sollen in einer immer kürzeren Zeitspanne absolviert werden. Aus dieser Not heraus wurden die Triple-Header geboren, also drei aufeinanderfolgende Rennwochenenden. Ein Schreckgespenst, das geblieben ist.

 

Geboren wurde die Idee noch von Bernie Ecclestone, im Jahr 2012 wollte er drei aufeinanderfolgende Rennen – in Monaco, New Jersey und Montreal – fahren lassen. Daraus wurde zwar nichts, doch Libert Media griff den Vorschlag 2018 erneut auf.

 

Diese Maßnahme wurde damals als Notlösung verkauft, aufgrund der Fußball-WM in Russland. „Es ist nichts, was wir in Zukunft wiederholen möchten. Es war eine Notfallmaßnahme“, erklärte Sportchef Ross Brawn.

 

Daran kann er sich heute wohl nicht mehr erinnern. In der Corona-Pandemie griff Liberty Media wieder zu dem Instrument: 2020 wurden gleich vier Triple-Header gefahren, 2021 drei.

 

Man darf davon ausgehen, dass bei kontinuierlicher Erhöhung der Rennanzahl, auch die Anzahl der Triple-Header weiter ansteigen wird.

Was bedeutet ein größerer Kalender für das Personal?

Eine Erweiterung des Kalenders bedeutet vor allem eine Mehrbelastung für das Personal im Fahrerlager – die MechanikerInnen, Hospitality-MitarbeiterInnen oder PressebetreuerInnen. Sie werden mit noch mehr Rennwochenenden stark belastet. Sie bezahlen den Preis.

Das System macht Menschen kaputt“, schrieb TV-Moderator Will Buxton auf Twitter. Er hat recht. Viele Teamchefs sprachen schon nach dem ersten Triple-Header 2018 von einem Desaster, einem Debakel.

Der dichte Terminkalender hinterlasse seine Spuren, musste auch Toto Wolff, Mercedes-Teamchef, zugeben. Die körperliche und mentale Belastung für sämtliche MitarbeiterInnen ist während der Pandemie nur noch deutlicher angestiegen.

Ich habe das Gefühl, Teil eines Experiments zu sein. Ich habe die Nase gestrichen voll“, erzählte ein Teammitglied zu Saisonmitte 2020 in einem wachrüttelnden Medienbericht der britischen ‚Sun‘. Das Wort Burnout kommt darin mehrfach vor.

Auch JournalistInnen trifft es immer härter. Mein Kollege Ruben Zimmermann hat kürzlich auf Facebook einen sehr ehrlichen, offenen Beitrag veröffentlicht. Konkret ärgerte er sich über die neuerliche Veränderung des Wochenendformats – Pressekonferenzen finden nun doch wieder donnerstags statt.

„Ich für meinen Teil liebe meinen Beruf. Umso mehr ärgert es mich ja, dass die Formel 1 mich mit solchen Entscheidungen quasi dazu zwingt, mir ganz genau zu überlegen, wie lange ich das in dieser Form noch machen kann oder will“, schreibt er.

Was bedeutet ein größerer Kalender für die Umwelt?

Ein weiterer Faktor, der beim wilden Expansionskurs nicht außer Acht gelassen werden darf: die Umwelt. Erst heute hat die Formel 1 unter dem Motto „Net Zero 2030“ einen Zwischenbericht veröffentlicht.

 

Darin heißt es: „Für die Zukunft ist geplant, künftige Formel-1-Kalender so zu erstellen, dass die Fracht- und Reiselogistik verbessert wird, damit der Sport effizienter um die Welt reisen kann.“

 

Liberty Media hat erkannt, dass vor allem die Logistik und die Reisetätigkeit des Trosses umweltschädlich ist. 2019 wurde berechnet, dass satte 45 Prozent der gesamten Emissionen der Formel 1 der Logistik zuzurechnen sind, knapp 28 Prozent den Geschäftsreisen.

 

Man kann dieses Problem heutzutage nicht mehr ignorieren, wo die Formel 1 selbst im Dauerfeuer der Kritiker von Klimaschützern steht. Daher hat Domenicali nun angekündigt, dass Rennen nach Regionen gruppiert werden sollen.

 

Diesen Vorschlag hat Sebastian Vettel schon im Vorjahr auf den Tisch gelegt: Der Kalender gehöre so strukturiert, „dass er Sinn ergibt“. Denn derzeit reise der Zirkus „umsonst hin und her“ durch die Welt.

 

Studien haben längst belegt, dass eine effizientere Route über den Erdball deutlich umweltfreundlicher wäre. Das würde auch Red-Bull-Teamchef Christian Horner begrüßen: „Wenn man sich den Kalender ansieht, macht es Sinn, einige Rennen zusammenzufassen, sei es in Amerika, in Asien oder in Europa.“

 

Einmalige Ausreißer, wie Kanada oder Miami während der Europa-Tour, würden dann der Vergangenheit angehören.

Und was wollen eigentlich die Fans?

Abgesehen von der großen Belastung für Mensch und Umwelt darf man sich die Frage stellen, was eigentlich die Fans wollen? Denn die Gefahr einer Übersättigung, die ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden.

 

Ja, aktuell erlebt der Sport einen Boom, immer mehr neue Fans schalten sonntags den Fernseher ein. Dennoch lässt sich die Cashcow nicht ewig weitermelken. „Für mich ist bei 20 Stationen die Sättigung erreicht“, ließ etwa Teamchef Horner schon 2013 wissen.

 

Auch McLaren-Boss Andreas Seidl würde lieber auf Qualität statt Quantität setzen. Events müssten ihre Exklusivität behalten. Dieser Meinung kann ich mich nur anschließen. Und auch sehr viele Fans, wie ich in zahlreichen Rückmeldungen und Kommentaren lesen durfte.

 

„Früher hat man sich die Rennen im Kalender eingetragen. Inzwischen schaut man auf Verdacht, ob gefahren wird. Meistens ja“, schreibt etwa ein User auf Facebook.

Ein Twitter-User ergänzt: „Als noch 16 Rennen pro Saison gefahren wurden, konnte man sich Jahre später noch an fast jedes Ergebnis erinnern. Heute scheitere ich schon zwei Wochen nach einem Tripleheader daran überhaupt alle 3 Podien korrekt hinzubekommen.“

 

Auf Twitter und Instagram habe ich eine Umfrage zum Thema erstellt. Ich wollte wissen, wie viele Rennen pro Saison optimal wären. Insgesamt stimmten rund 100 Personen ab, auf beiden Plattformen war die klare Mehrheit für 20 Rennen pro Jahr (Twitter: 70 Prozent; Instagram: 65 Prozent).

 

Vielleicht sollte Liberty Media einfach mehr auf die Fans hören.

Facebook
Twitter
LinkedIn