Wie können blinde und sehbehinderte Menschen Formel 1 in Österreich anschauen? Bernd Kainz macht es möglich. Er ist Audiokommentator im ORF. Wie funktioniert diese Art des Kommentars? Das hat er mir in unserem Gespräch erklärt.
Wie kommt man dazu, Akustische Bildbeschreibung zu machen?
Bernd Kainz: „Ich habe eine Sprecherausbildung und das Interesse an der Formel 1 hat mich dazu gebracht, diese beiden Dinge zu kombinieren. Akustische Bildbeschreibung bei Live-Events gibt es im ORF noch gar nicht so lange, das hat 2010 mit der Fußball-WM begonnen. Ich bin seit Februar 2011 dabei, also fast von Beginn an.“
Wie funktioniert Akustische Bildbeschreibung bei einer Formel-1-Übertragung?
Kainz: „Generell geht es bei uns darum, dass wir das Bild so transportieren, damit der Blinde etwas damit anfangen kann. Leidenschaft für den Sport ist wichtig, weil wir große Emotionsträger sind. Auch die Kenntnis über den Sport muss vorhanden sein. Da kommt es aber weniger auf das Redaktionelle an, sondern eher auf das, was gerade passiert. Zum Beispiel muss man eine Strategie interpretieren können, ob jetzt ein Team einen Undercut oder einen Overcut probiert.“
Wo liegt der Unterschied zu einem normalen Kommentar?
Kainz: „Eine allumfassende Akustische Bildbeschreibung bedeutet, dass wir eher selten erzählen, wann welcher Fahrer Geburtstag hat, oder was er am Vortag gemacht hat – das sind keine wichtigen Informationen für uns. Das wäre eher eine Themenverfehlung. Es geht wirklich um die Bildbeschreibung.“
„Wenn Kimi Räikkönen einen Sebastian Vettel überholt, dann beschreiben wir genau, ob das auf der Innen- oder Außenseite passiert oder ob beim Herausbeschleunigen am Kurvenausgang Übersteuern stattgefunden hat, weil derjenige gerade unter Druck ist – vor allem die Linienwahl also.“
Gibt es Spezifika, die nur auf die Formel 1 zutreffen?
Kainz: „In der Formel 1 gibt es relativ viele Einblendungen und Informationen über Zeiten, die lesen wir natürlich auch vor, damit der Zuhörer weiß, wie die Zeitabstände gerade aussehen und wie sie sich verändern. Da arbeiten wir auch mit einer zusätzlichen App.“
„Wir liefern transparent, wo sich wer gerade befindet, wer holt strategisch gerade auf – obwohl er zum Beispiel gerade auf Soft und nicht auf Ultrasoft fährt, was ja auch interessant sein kann. Wir versuchen die Strategie zu entflechten und das Bild zu beschreiben, das gerade stattfindet.“
Wo liegen die Unterschiede zwischen der Akustischen Bildbeschreibung eines Formel-1-Rennens und zum Beispiel eines Ski-Rennens?
Kainz: „Es gibt Unterschiede. In der Formel 1 gibt es eine irrsinnige Datenflut. Bei einem Skirennen gibt es maximal drei Zwischenzeiten und das war’s. Jeder fährt alleine. Bei einem Skirennen gibt es auch keine wirklichen Schnitte, die die Position verändern. Wenn ich ein Skirennen kommentiere und es fährt Axel Lund Svindal, dann kann ich davon ausgehen, dass der auch vom Start bis ins Ziel im Bild ist.“
„Das Streckenprofil ist ebenso immer gleich. Da geht es dann darum, die Individualität herauszuarbeiten. In der Formel 1 ist das ganz anders. Da gibt es dauernd Schnitte: von der Box raus auf die Strecke, in die Cockpitansicht, auf die Hubschrauber-Perspektive, in die Totale oder Vogelperspektive. Es braucht daher viel mehr Geschick, den Satz, den man begonnen hat, auch zu Ende zu reden – auch wenn die Kamera nicht mehr drauf ist.“
Wie viel technisches Know-how muss man haben?
Kainz: „Wenn jemand Unter- oder Übersteuern hat, dann ist es für mich nicht wichtig, das zu interpretieren. Diesen Gedankenspielraum lassen wir tendenziell beim blinden Menschen. Wenn Unfälle passieren, dann schauen wir natürlich schon, wie es dazu kam.“
Welche Situationen sind besonders schwierig zu kommentieren?
Kainz: „Die schwierigste Situation bisher war der Bianchi-Unfall, der nicht gezeigt wurde. Die Safety-Car-Phase war extrem lang und wir wussten nicht warum. Rückwirkend betrachtet war das eine sehr unklare Situation. Schwierige Situationen gibt es auch oft, wenn nicht ganz klar ist, wer an einer Kollision schuld ist. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Vorfall mit Nico Rosberg und Lewis Hamilton in Österreich, als sie in Kurve 3 vor der Schönberg-Geraden kollidiert sind. Jede Kollision ist eine Herausforderung für sich.“
Ernst Hausleitner und Alex Wurz haben es durch ihre Arbeit als ORF-Kommentatoren bereits zu großer Beliebtheit geschafft. Du kommentierst das Geschehen parallel zu den beiden. Gibt es da so etwas wie Konkurrenzkampf?
Kainz: „Überhaupt nicht. Wir machen eine ganz andere Tätigkeit. Bei uns geht es nur um die Akustische Bildbeschreibung. Und auf das ist es beschränkt. Das ist sehr wertvoll, weil wir die Formel 1 damit barrierefrei machen. Das bedeutet mir persönlich sehr viel. Ernst Hausleitner und Alex Wurz liefern ein anderes Programm. Das steht außer Konkurrenz.“
Wie wird das Angebot angenommen?
Kainz: „Es gibt die Hörfilm-Liste, in die Blinde reinschreiben können, was ihnen gefallen hat oder auch nicht. In Wien haben wir auch immer wieder Treffen mit der Hilfsgemeinschaft der Blinden. Da gibt es Austausch- und Feedback-Runden, so sind wir sehr nahe am Zuhörer dran.“
Was will ein blinder Formel-1-Fan hören?
Kainz: „Mir hat mal jemand erklärt: Wenn jemand von Geburt an blind ist, dann kann dieser Mensch mit Farben nichts anfangen. Farben sind wiederum für viele Menschen wichtig, die erst im Laufe ihres Lebens blind geworden sind oder eine starke Sehschwäche haben.“
„Ich hatte auch einmal eine interessante Begegnung mit einer Zuhörerin, die sich jedes Auto schwarz vorgestellt hat. Sie hat auch gesagt, dass sie früher dachte, dass alle Strecken eben sind. Es gibt gewisse Vorstellungen und wenn wir diese Lücke nicht füllen, wird die Vorstellung im Kopf zu Ende gedacht.“
Welche Maßnahmen der Formel-1-Rechteinhaber würde die Akustische Bildbeschreibung erleichtern?
Kainz: „An sich gibt es so viele Daten in den Einblendungen, dass wir damit gut arbeiten können, um wirklich das gesamte Bild im Überblick zu haben. Im zweiten Freien Training wäre es toll, die Stints der Longruns genau aufgeschlüsselt zu haben. Damit man sehen kann, wie lange fährt ein Fahrer schon auf einem Reifen. Dann könnte man besser auf die Longruns eingehen.“
Du warst 2018 in Spielberg beim Formel-1-Rennen vor Ort. Was hat Dir das für deine Aufgabe gebracht?
Kainz: „Es hat mir geholfen, einiges noch besser beschreiben zu können. Vor allem auch während des Rennens, was sich da so in der Box tut. Da tut sich eigentlich sehr viel, wo oft die Kamera nicht drauf ist. Für die Akustische Bildbeschreibung war es jedenfalls eine Bereicherung.“